Sieben Tipps für Partner*innen und Freund*innen autistischer Menschen
1. Glaube Deine*r Partner*in oder Freund*in.
Beachte aufmerksam was er*sie sagt, schreibt oder gebärdet und glaube es. Suche nicht nach verborgenen Bedeutungen oder Hintergedanken darin. Nimm stattdessen die Worte Deine*r Partner*in ernst, auch wenn Du sie zunächst nicht verstehst, sie Dir nicht plausibel erscheinen oder Du an seiner*ihrer Stelle anders fühlen oder denken würdest. Das gilt insbesondere dann wenn Dein*e Partner*in über seine*ihre eigenen Wahrnehmungen, Gefühle und Selbstdefinitionen Auskunft gibt. Wenn Dein*e Partner*in sich als autistisch, neurodivergent, neurodivers oder behindert bezeichnet, dann ist das eine wichtige Information über sein*ihr Erleben und Empfinden, die Du nicht mit Klischees wie „Modediagnose“ oder mit Vergleichen mit bekannten Autist*innen abtun, zerreden oder wegdiskutieren solltest, insbesondere wenn Dir wirklich was an der anderen Person liegt. Umgekehrt ist es auch nicht hilfreich einer Person, die sich selbst vielleicht als schüchtern, nüchtern, kopflastig, introvertiert oder ganz einfach mit seinem*ihrem Namen bezeichnet, ein psychiatrisches Etikett aufkleben zu wollen, besonders, ich wiederhole, wenn einem an der Person etwas liegt. In der eigenen (Selbst-)Wahrnehmung ernstgenommen und anerkannt zu werden ist für jeden Menschen wichtig, zumal in einer Liebesbeziehung oder Freundschaft. Für manche von uns ist es so wichtig wie für viele von Euch vielleicht sexuelle Treue.
2. Zwinge Deine*r Partner*in keine rigiden Geschlechterrollenerwartungen auf.
Zwar ist Geschlecht für die meisten Menschen schon bei der Partner*innenwahl ein Kriterium, doch für viele von uns und auch für immer mehr neurotypische Menschen können andere Eigenschaften einer Person genauso wichtig und wichtiger sein. Auch diejenigen von uns die gerne in heterosexuellen Beziehungen leben, haben nicht immer die Lust oder das Talent dazu die oft damit einhergehenden Rollenerwartungen traditionsgemäß zu erfüllen. In abgeschwächtem Maß gilt das auch für Freundschaften, z.B. die ebenfalls mit geschlechtsspezifischen Rollenerwartungen aufgeladene Rolle der ‚besten Freundin‘. Das muss nicht zu Eurem Nachteil sein. Den Raum für Individualität, den Du Deine*r Partner*in hier lässt, kannst Du selbst auch genießen. Gestaltet Eure Rollenaufteilung nach Euren Bedürfnissen und Fähigkeiten und nicht nach stereotypen Erwartungen.
3. Betrachte Eure Beziehung durch die Brille des Konzepts der Neurodiversität.
Neurodiversität bedeutet, dass es eine wahrscheinlich unendliche Vielfalt der Weisen gibt wie menschliche Gehirne verdrahtet sind. Auch Deine eigene Wahrnehmungs- und Denkweise ist nur eine davon. Dass Du sie mit einer Mehrheit von Menschen teilst oder zu bestimmten Zeiten an bestimmten Orten damit auf relativ wenige Missverständnisse, Konflikte und Barrieren stößt, macht sie nicht zu einer überlegenen, maßgeblichen oder der einzig richtigen Wahrnehmungs– und Denkweise. Mache Dir die Spezifik Deiner Wahrnehmung, Deiner Gefühle und Deines Denkens bewusst und höre auf, sie einfach als ’normal‘ zu betrachten. Erforsche (Deine) neurotypische(n) Privilegien, nimm ’neurotypisch‘ sofern es für Dich passt als Positionierung an, ohne ’neurotypisch‘ vorschnell zu einer Deiner Identitäten zu machen. Denn erstens markiert der Begriff neurotypisch wahrscheinlich keine einheitliche Wahrnehmungs- und Denkstruktur sondern einfach die gesellschaftliche Position derer, deren Wahrnehmungs- und Denkstrukturen nicht als abweichend oder besonders verstanden oder erlebt und dementsprechend benachteiligt werden. Und zweitens sollte die Anerkennung Deiner eigenen neurotypischen Anteile und damit einhergehender Privilegien Dich nicht daran hindern, Deine individuellen Eigenarten und Deine eigenen möglicherweise neurodivergenten Anteile zu erforschen. Was bedeutet es für Dich konkret, neurotypisch zu denken und zu fühlen? Wo hast Du möglicherweise andere Anteile, z.B. von Hochsensibilität, ADHS oder Depressionen? Lerne darüber Dich selbst und auch Deine*n Partner*in besser kennen und verstehen, anstatt die Dichotomie normal vs. abweichend durch Deine Selbstdefinition als neurotypisch zu verstärken.
4. Verstehe, dass Probleme und Leiden in Beziehungen in der Interaktion entstehen.
Wenn Dein*e Partner*in leidet oder Ihr Euch streitet, dann in den meisten Fällen nicht weil er oder sie Autist*in ist, sondern weil Ihr miteinander Missverständnisse oder unterschiedliche Bedürfnisse habt und/oder weil Dein*e Partner*in außerhalb der Beziehung auf Unverständnis und Barrieren stößt die ihn*sie stressen und oft auch benachteiligen. Das heißt dass weder Du noch Dein*e Partner*in sich einseitig an den*die andere anpassen muss. Du musst auch nicht zu*r Autismus-Expert*in oder gar zur Therapeutin werden. Versuche stattdessen Deine eigenen Wahrnehmungen, Gefühle und Bedürfnisse aufrichtig zu erklären und Deine*r Partner*in zuzuhören. Ihr werdet überwiegend ähnliche Konflikte haben wie die meisten anderen Paare auch. Eure Neurodiversität fügt diesen Konflikten und ihrer Lösung ein Stück Komplexität hinzu, die Ihr, ähnlich wie manche transkulturelle Paare, auch als Ressource betrachten und kreativ für Euch nutzen könnt.
5. Wirf Deine*r Partner*in nicht vor, dass er*sie Dinge bewusst und geplant tut, die Du vielleicht spontan tun würdest.
Vielleicht braucht er oder sie ein Drehbuch im Kopf oder eine Erinnerung im Handy-Kalender für kleine Geschenke, Anrufe, Küsse, Sex oder die Frage „Wie war Dein Tag, Schatz?“. Das entwertet diese Liebesbeweise nicht. Sie verdienen Wertschätzung, denn er*sie erarbeitet und plant bewusst Dinge um Dich zu erfreuen, seine*ihre Liebe oder Zuneigung zu zeigen und diese gemeinsam zu genießen.
6. Mach Dich nicht über Deine*n Partner*in lustig.
Humor kann eine wunderbare Ressource für Paare auch in schwierigen Zeiten sein, sofern er geteilt wird und beide über sich selbst und über gemeinsame Schrullen lachen oder schmunzeln können. Auch wird einer Ulknudel die sich über alles und jeden lustig macht kaum verübelt werden wenn ab und zu auch der*die Partner*in oder Freund*in sein*ihr Fett wegkriegt. Oft kommt aber Humor als getarnte Aggression daher, die sich zudem der Kritik entziehen will mit dem Hinweis „war ja nur Spaß“. Selbst uns Autist*innen entgeht dieser Unterschied meist nicht.
7. Therapiere Deine*n Partner*in nicht.
Ab und zu dolmetschen mag noch okay oder erwünscht sein, aber versuche nicht Deine*n Partner*in für soziale Anlässen zu coachen, zu disziplinieren oder durch penetrantes Fragen nach seinen*ihren Gefühlen aus der kopflastig sicheren Fassung zu bringen. Das würde eine zusätzliche Schieflage in Eure Beziehung bringen, könnte für Dich auf Dauer überfordernd und abtörnend sein und für Deine*n Partner*in demütigend und auf Dauer gefährlich. Denn auch wenn viele von uns Autist*innen gerne und gut Dinge lernen die uns nicht in die Wiege gelegt wurden, kommen solche Lernprozesse und ‑erfolge oft mit Nebenwirkungen psychischer, körperlicher und kognitiver Art. Innerhalb einer Beziehung ist es selbstverständlich dass man sich ab und zu gegenseitig unterstützt, aber das sollte selbstbestimmt, gleichberechtigt und nicht dauerhaft einseitig geschehen.
liebevoll autistisch