Ja, da fehlt jemand. Nachts, bevor ich ins Bett gehe. Morgens, wenn ich gerne mit ihm reden würde um mich aufzuheitern für den Tag. Mittags, wenn ich ihn gerne um Rat fragen würde bei beruflichen Entscheidungen. Abends, wenn ich gerne mit ihm Reiten oder, weil das in der Stadt schwer geht, Radfahren gehen würde. Bei Familienfesten, wenn ich mich mit ihm an meiner Seite stärker fühlen würde. Bei Hochzeiten, wenn ich mir vorstelle, wie ausgelassen er mit uns feiern würde. Bei Geburten, wenn ich ihn vor meinem inneren Auge sehe, wie er das Baby hält und es liebevoll begrüßt. Jeden Tag als Mama, wenn ich mich an die Spiele erinnere, die er mit mir als ich Kind war gespielt hat, und mir vorstelle, was für ein lustiger und lieber Opa er wäre. Wenn ich mich mal mit meinen Kindern nicht ganz so gut verstehe und mir wünsche, sie würden bei ihm ein offenes Ohr und eine andere Perspektive als meine finden.
Neulich habe ich mir ein Handbuch für Familientherapie bestellt. Misstrauisch wie ich inzwischen bin, blätterte ich sofort durch das Inhaltsverzeichnis und schlug das Kapitel zu Patchworkfamilien auf. Da stand etwas in der Art wie (ich paraphrasiere anstatt zu zitieren, denn es ist unwichtig um welches Buch es sich genau handelt): ‚In Stieffamilien stehen alle Beteiligten täglich vor einer großen Herausforderung, denn die Gegenwart des neuen Partners oder der neuen Partnerin erinnert die Kinder ständig an das Fehlen des alten bzw. des biologischen Elternteils.‘ D.h. egal wie nett und kompetent das Stiefelter ist, jedes Mal wenn sie in sein*ihr Gesicht sehen, vermissen Sie ihre Mama*ihren Papa. Wer wollte da widersprechen? Klingt vielleicht etwas übertrieben, aber logisch. Leider bemühen die Autor*innen, um die Schwierigkeiten von Patchwork-Familien noch eindringlicher zu illustrieren, den Vergleich mit Stieffamilien bei denen ein Elternteil gestorben ist. In diesem Fall, so ähnlich schreiben sie, seien die Rollen klar: Das neue Elter würde das alte einfach ersetzen. Was nur beweist, dass sie über diese Konstellation oder die Gefühle der Menschen die ihr Buch lesen und die vielleicht verwitwet oder ver(halb)waist sind, nicht eine Minute lang nachgedacht haben. Mit einer Minute Nachdenken und ‑fühlen würde wahrscheinlich jede*r darauf kommen, dass diese ihr abwesendes Elter auch sehr und – weil sie es auch nicht mehr besuchen können – wahrscheinlich noch mehr vermissen und dass das sicher auch ihr Verhältnis zu dem Stiefelter beeinflusst. Ich werde dieses Argument jetzt nicht weiter ausbreiten denn es ist zu banal aber auch zu schmerzhaft.
Was dahintersteht ist m.E. eine Unsichtbarmachung des Phänomens früher Tod, die wahrscheinlich zu einem großen Teil aus Angst passiert, die aber in Fällen wie diesem, und das ist kein Einzelfall, sogar zu dessen Banalisierung führen kann. Ich hatte gehofft, an dieser Tabuisierung früher Tode würde sich durch die Pandemie etwas ändern, aber hier in Deutschland wird gefühlt immer noch so getan als würde die nur über 85-jährige betreffen.
Ich habe keine wissenschaftliche Untersuchung zu dem Thema gemacht oder auch nur gelesen, aber aufgrund meiner Lebenserfahrung möchte ich gerne über ein paar Zusammenhänge spekulieren: Wir denken wir leben in einem reichen Land mit einem verbesserungswürdigen aber vergleichsweise guten Gesundheitssystem und das stimmt ja teilweise auch, wie wir während der Pandemie gesehen haben. Die Zahl der Straßenverkehrstoten und Gewaltverbrechen geht seit Jahren zurück. Irgendwo habe ich gelesen, dass nur 2 % der Einwohner*innen Deutschlands vor dem 40. Geburtstag stirbt. Abgesehen davon, dass sich das Leid der Betroffenen nicht anhand deren Zahl darstellen lässt, sind das, selbst wenn man mit Zahlen argumentieren wollte, auch nicht so wenige, dass man sich deren Problemen und denen ihrer Familien gar nicht annehmen sollte. Zum anderen dürfte auch ein Tod vor dem 50. Geburtstag den Angehörigen schockierend früh vorkommen.
Lebenserwartung und Sterblichkeit sind in der Bevölkerung wie alles andere auch ungleich verteilt. Wer von struktureller Diskriminierung betroffen ist und allgemein weniger Zugang zu Ressourcen hat, wird wahrscheinlich oft auch früher körperlich krank oder depressiv. Wer körperlich schwer arbeitet, läuft eher Gefahr einen Arbeitsunfall zu erleiden. Insbesondere soziale Klasse und Einkommen korrelieren stark mit der Lebenserwartung. Auf der anderen Seite zeigen sich bei Thema früher Tod auch die teilweise enormen Kosten der versuchten Aufrechterhaltung gesellschaftlicher Dominanz für einzelne Mitglieder dominanter Gruppen. Die höhere Suizidrate von Männern im Vergleich zu Frauen würde ich jedoch nicht alleine als Konsequenz sog. toxischer Männlichkeit mit Verleugnung eigener Gefühle etc. beschreiben. Tatsächlich weist das Geschlechterarrangement in unserer Gesellschaft immer noch den Männern stärker die Familienernährerrolle zu, die mit Macht und Erpressungspotential aber eben auch mit viel Verantwortung und Druck diese zu erfüllen verbunden ist.
Wer nimmt sich nun dieses Themas und der davon Betroffenen und deren Angehörigen an? Glücklicherweise gibt es in der queerfeministischen und klassismuskritischen Szene einige Ansätze dazu, wie Buch „Recht auf Trauer“ von Francis Seeck, den Podcast endlich oder den vereinzelten Artikel in der Missy über Depressionen und dass eine Szene auch zum Überleben der Leute, die zu ihr gehören, beitragen sollte.
Andererseits wird das Thema leider von der politisch gegensätzlichen Seite aufgegriffen und instrumentalisiert, um belastete Gruppen gegeneinander auszuspielen. So hat die AfD vor einigen Jahren verwitwete Eltern als „die echten Alleinerziehenden“ entdeckt und gegen die seit Jahrzehnten erhobenen Forderungen Alleinerziehender (und hier) vor allem nach finanzieller Absicherung (die bei verwitweten Menschen, sofern sie verheiratet waren und die verstorbene Person gut verdient hat, über die Rente tatsächlich besser funktioniert) symbolisch in Stellung gebracht. Die Verwitweten haben darum nicht gebeten und es hat ihnen auch nichts gebracht. Es ging auch gar nicht um Verständnis für ihre Situation oder gar deren Verbesserung, sondern um Verschlechterungen oder Verweigerung von Verbesserungen für angeblich „freiwillig“ Alleinerziehende und deren Familien. Obwohl Alleinerziehende, bei denen das andere Elter verstorben ist, selbstverständlich seit Jahrzehnten gemeinsam mit Alleinerziehenden kämpfen, die sich getrennt haben oder von Anfang an alleinerziehend waren, blieb diese symbolische Spaltung nicht ohne psychologische Folgen. Wer wollte nun auf seine*ihre besondere Situation als Witwe*r oder (Halb)Waise aufmerksam machen, wenn Verdacht droht, von solchen reaktionären Diskursen vereinnahmt zu werden? Wer wollte auf die Herausforderungen seiner*ihrer unselbstbestimmten Lebenssituation Verständnis fordern, wenn selbstbestimmte Lebensentwürfe jenseits von MamaPapaKind unter Kritik geraten und es immer noch darum geht, diese sichtbar zu machen und zu normalisieren? Wer wollte der politisch m.E. richtigen Dekonstruktion von Familienformen und ‑normen in die Parade fahren und zugeben, dass er*sie persönlich seine*ihre altmodische Familie vermisst?
Was tun?
Zum Beispiel die Familien und Freund*innen, die Angehörige haben, die an Corona oder an was anderem gestorben sind, nicht alleine lassen. Ein Anruf, eine Nachricht oder eine Karte sind besser als nichts, Es geht hier nicht darum, die ‚richtigen‘ oder gar tröstende Worte zu finden. Das wäre der Situation gar nicht angebracht. Einfach da sein und aushalten reicht. Und bei Bedarf praktische oder auch finanzielle Unterstützung anbieten, denn die Anforderungen des Alltags gehen ja weiter, auch wenn eine Person fehlt und vermisst wird. Mal ein Essen vorbeibringen, mit den Kindern spielen, ein bisschen ablenken. Eines Tages trifft es uns alle. Dann werdet Ihr es verstehen. Ihr müsst aber nicht so lange warten, sondern könnt auch jetzt schon aus der Erfahrung anderer lernen.
Infos für Trauernde und Freund*innen:
- Hier gibt es einen ganz guten Artikel darüber, wie man mit Trauernden reden kann » https://www.zeit.de/zett/2017–11/wie-wir-so-mit-trauernden-reden-koennen-dass-wir-trost-spenden?
- Für Trauernde selbst: https://www.trauer-und-leben.de (von der Evangelischen Kirche),
- Selbsthilfegruppen für Corona-Betroffene und trauernde Angehörige: https://www.nakos.de/aktuelles/corona/
Diesen Beitrag habe ich vor knapp zwei Jahren geschrieben. Damals kam er mir zu hart vor, mit fortgeschrittener Pandemie zu soft. Deshalb wurde er bisher nicht veröffentlicht. Nicht alle hier angesprochenen Debatten sind ganz aktuell, das Thema Tod ist es. Immer. Genau wie Geburt und alles andere, was zum Leben gehört.