Von Kindern lernen: immer offen bleiben!
Krass. Gibt es auch positive Erfahrungen? Wo Du dachtest: oh, wie wird das jetzt? Oder wo Du Angst hattest, und dann ist es wie selbstverständlich gelaufen oder sogar richtig gut?
Ja. Oft mit Kindern. Es gibt Situationen, wo auch ich merke, dass ich Vorurteile hatte oder alles auf meine Behinderung projiziert habe und wo Kinder durch ihre offene Art geholfen haben.
Zwei kleine Beispiele: Wir waren essen und am Nachbartisch saß ein Junge mit seinen Eltern. Er guckte immer wieder zu uns rüber und er sagte: „Das kenne ich. Das haben wir auch.“ Und die Mama sagte: „Ja, das ist ein Rollstuhl. Das hat der Opa. Daher kennst Du das.“ Und der Junge sagte: „Das kenne ich! Das kenne ich! Ich will das aber jetzt bei uns auch haben!“ Und die Mama sagte wieder: „Ja, der Opa hat das. Magste mal gucken?“ Und dann kommt er zu uns an den Tisch. Er hat den Rollstuhl – das habe ich erst dann gemerkt – überhaupt nicht angeschaut, sondern er kommt an unseren Tisch, nimmt die Streichholzschachtel, nimmt die mit an seinen Tisch und will dort die Kerze anzünden, die bei uns gebrannt hat und bei ihm nicht. Er hat die ganze Zeit nur von der Kerze geredet und die Erwachsenen haben gedacht, er redet von dem Rollstuhl.
Da habe ich mich selber ertappt gefühlt, weil ich habe gedacht: na klar, wenn die Kinder mich sehen und reden, kann’s ja nur um den Rollstuhl gehen. Nur weil ich eine Behinderung habe, heißt das noch lange nicht, dass ich nicht in diese Fallen tappe.
Eine andere Situation war eigentlich ziemlich unangenehm. Ich habe meinen Sohn in den Kindergarten gebracht. Ich kann ihn immer nur bis zur Garderobe bringen und nicht in die Gruppe hinein, weil es da drin zu voll ist. Das war mit den Erzieherinnen so abgesprochen. Eine Mama hat mich beobachtet, wie ich meinem Kind geholfen habe, und dann meinte sie: „Ich muss Sie jetzt mal ansprechen. Bitte bringen Sie Ihr Kind nichtmehr in den Kindergarten.“ „Warum?“ Ihr Kind sei neu in der Gruppe und es hätte Angst vor mir. Ich war völlig perplex: „Wie, Angst vor mir? Ich habe eine Behinderung. Ich sitze im Rollstuhl. Das ist ein Hilfsmittel, das hilft mir, damit ich rauskomme.“ Gleich in diesem Rechtfertigungs- und Erklärungsmodus. Man hat schnell gemerkt, dass nicht das Kind Angst hat, sondern dass sie ein Problem damit hat. In dem Moment kam eine Freundin meines Sohnes, die am Tag davor bei uns zu Besuch war, aus der Gruppe herausgehüpft und meinte: „Hey Ju, guten Morgen, darf ich mal hupen?“ Weil sie liebt das, dass man mit meinem Rollstuhl hupen kann. „Ja, natürlich kannst Du hupen!“ Und sie hat draufgedrückt. Und das Kind von der Frau, die mich angesprochen hat, saß auf einmal so da: „Ooh!“ Da habe ich gefragt: „Möchtest Du auch mal hupen?“ Gleichzeitig hat aber mein Herz gepocht. Das Kind so: „Ja!“ und dann kam es her und hat gehupt und da habe ich meinen Sohn in die Gruppe verabschiedet und bin gefahren.
Ich habe die Mama nicht mehr angesprochen. Heute würde ich das nicht mehr so stehen lassen. Aber damals war ich froh, dass ich aus dieser Situation draußen war. Es hat mich auch beschäftigt im Nachhinein, aber ich glaube die andere Mama hat es noch viel mehr beschäftigt.
Ist zu hoffen, ja.
Solche Situationen gibt es, wo Kinder mit ihrer Leichtigkeit die Sorgen, die man vorher hat, ein bisschen wegnehmen. Und ich finde es wichtig, dass ich hier offen bleibe und mich immer wieder selbst reflektiere.
Es gibt Sachen, über die ich mir vor der ersten Schwangerschaft unheimlich viele Gedanken gemacht habe: wie wird es, wenn das Kind krabbelt? Wie kann ich es hochheben? Das hat sich bei uns in Luft aufgelöst. Der Rollstuhl war da, meine Kinder kannten es nicht anders. Entweder sind die Kinder zu mir her gekrabbelt oder ich bin zu ihnen hingefahren. Andere Kinder ziehen sich am Stuhl hoch, meine Kinder haben sich am Rollstuhl hochgezogen und dann konnte ich sie hochnehmen. Ganz vieles hat sich auch aus den Situationen heraus ergeben. Ich habe gemerkt: das eine oder das andere fällt mir schwer. Dann mache ich das halt nicht, wenn ich allein bin. Dann warte ich, bis jemand da ist oder ich nehme ein Telefon in die Hand und hole mir Hilfe. Ich würde auch heute noch nicht mit meinen Kindern allein ins Schwimmbad gehen. Wenn ich mir sicher wäre, dass beide gut genug schwimmen können und ich notfalls noch vom Beckenrand um Hilfe rufen könnte dann ginge das, aber es ist immer ein Abwägen. Aber viele Sachen, über die ich mir vorher Gedanken gemacht habe, wie: wie kriege ich die Kinder ins Bett? haben sich entwickelt, dadurch dass wir unseren Alltag gemeinsam gelebt haben. Und gemeinsam, auch schon mit den Babys, nach Lösungen gesucht haben: „Was für ein Kind bist Du? Wie geht’s Dir damit?“ Und wir haben auch auf die Vorschläge der Kinder reagiert. So gab es auch Unterschiede zwischen dem großen und dem kleinen Jungen, weil es halt unterschiedliche Kinder waren.
Wow, das klingt wunderbar. Das ist echt gute Erziehungsberatung für Eltern mit und ohne Behinderung. Ich kann mich da gut drin wiederfinden, dass viele von den Fantasien, die man vorher hat, gar nicht so stimmen, dass es immer anders kommt und dass auch schon ein Kind mit drei Monaten nach etwas greifen und „äh, äh“ machen kann, mit einem kommuniziert und einem so Hilfestellung gibt. Das ist wirklich eine schöne Beobachtung.
Behörden-Ping-Pong und bevormundende Hilfe
Ein anderes Thema, um das sich viele Ängste drehen, ist der Kontakt mit Behörden. Man liest auch heute noch ab und zu, dass Leute eine Elternassistenz beantragen und dann sollen ihnen plötzlich die Kinder weggenommen werden. Das lässt sich dann glaube ich meistens irgendwie regeln, aber es ist ein angstbesetztes Thema. Was habt Ihr damit für Erfahrungen?
Ich kann diese Angst sehr gut nachvollziehen. Da hat sich allerdings einiges verbessert in den letzten Jahren, auch vom rechtlichen Anspruch her.
Wir hatten keine Elternassistenz. Die Beantragung war damals kompliziert und auch das Einkommen des Partners wurde angerechnet, um zu berechnen, wie viel man selbst zuzahlen musste. Ich hatte Kontakt mit einem blinden Papa. Dessen Familie hat das durchgezogen und ihre ganzen Einkommensverhältnisse offengelegt dafür, dass sie für 90 Minuten einmal in der Woche Unterstützung bekommen hat. Das hat vorne und hinten nicht gereicht, erstens nicht als Unterstützung für den Papa, und zweitens nicht damit das Kind eine gute Beziehung zu der Assistenz aufbauen kann.
Wir hatten dennoch versucht eine Elternassistenz zu beantragen, bekamen es dann aber mit einer völlig übermotivierten Person vom Integrations-Amt oder Amt für Teilhabe zu tun, die auf unsere Lebenswelt gar nicht einging. Sie hat gesagt: „So und nicht anders. Wenn Sie das so nicht machen wollen, dann können Sie ja Ihr Kind nicht richtig versorgen. Dann müssen wir das Jugendamt dazu holen.“ Die Zahlung der Elternassistenz ist nicht einer Stelle zugeordnet, es kommt auf Deine Behinderung an und ganz schnell ist man wieder in diesem Behörden-Pingpong. Schade finde ich, dass sie das Jugendamt gleich als Drohgebärde erwähnt hat. Dabei hat das Jugendamt tolle Unterstützungsmöglichkeiten wie die Frühen Hilfen, die gar nicht drohen, sondern genau das Gegenteil wollen.
Was ich super schade finde ist, dass vieles so stark davon abhängt, an was für eine*n Sachbearbeiter*in Du kommst. Weil es leider immer noch viel Ermessensspielraum gibt. Man kann Widerspruch einlegen, der wird dann von einer anderen Person bearbeitet, da hat man oft gute Chancen. Ich bin es gewohnt zu kämpfen, Widersprüche einzulegen und für mein Recht einzustehen. Aber es kostet auch viel Zeit und Kraft und die hatte ich damals mit einem Neugeborenen zuhause nicht.
Seit damals hat sich viel getan. 2018 gab es ein großes Gesetz (das Bundesteilhabegesetz oder BTHG), das das vereinfacht hat. Das Gehalt vom Partner wird nicht mehr angerechnet und man muss die Elternassistenz nicht mehr selbst zahlen. Aber die Verbesserungen sind noch nicht überall angekommen. Hier braucht es bessere Beispiele, bessere Vorbilder und einfach auch Menschen, die damit ganz offensiv umgehen und zeigen: so kann’s gehen.
Danke für diese vielen Erfahrungen. Manches hat vielleicht ein paar Ängste bestätigt, aber es hat mir jetzt auch viel Mut gemacht zu hören was man für Handlungsmöglichkeiten hat, wenn man die Energie aufbringt und sich traut.
Übermorgen könnt Ihr über Erfahrungen in Bündnissen zwischen Menschen mit Behinderungen und Eltern von Kindern mit Behinderungen lesen und von Wheelymum Tipps für Aktivismus mit abgezählten Löffeln bekommen.