Reproduktive Gerechtigkeit umfasst nicht nur das Recht sich für oder gegen Schwangerschaft und das Leben mit Kind(ern) zu entscheiden, sondern auch diese in guten und gewaltfreien Bedingungen aufwachsen zu lassen.
In dem dringend notwendigen Buch „Mehr als Selbstbestimmung! Kämpfe für reproduktive Gerechtigkeit“, herausgegeben vom Kollektiv Kitchen Politics sind Texte versammelt, die einerseits die Breite der Themen, Herausforderungen und Kämpfe, die der Begriff Reproduktive Gerechtigkeit umfasst, aufzeigen, andererseits auch Kernelemente des Konzepts herausarbeiten, die beim Übertragen auf verschiedene Lebensrealitäten und Kontexte mitgenommen werden sollten.
Letzteres leistet besonders der Beitrag von Loretta Ross. Als eine der Aktivist*innen, die den Begriff prägten und ihn bis heute weiter definieren, beschreibt sie die Entstehungs- und Wirkungsgeschichte des Konzepts in der Schwarzen Feministischen Bewegung in den USA aus erster Hand.
Unterdrückungs-erfahrungen in Macht umwandeln
Loretta Ross nennt in ihrem Beitrag auch inhaltliche Standards, die Organisationen erfüllen sollten, die mit dem Begriff arbeiten. Aus diesem komplexen Katalog an Kriterien stechen für mich zwei besonders heraus. Zum einen die Intersektionalität, die dem Ansatz einerseits inhärent ist, andererseits stets auch als Arbeitsaufgabe verstanden werden muss, indem sowohl Verbindungen zwischen den Erfahrungen verschiedener marginalisierter Communities als auch zwischen verschiedenen Politikfeldern die reproduktive Rechte und reproduktives Handeln beeinflussen — und das sind fast alle! — erkannt und aufgezeigt werden. Dabei spielt als Methode Storytelling (das Erzählen von Geschichten aus Erfahrung), ähnlich wie schon in der afroamerikanischen Bürgerrechtsbewegung und der zweiten Frauenbewegung eine wichtige Rolle, um Erfahrungen mit reproduktiver Unterdrückung aus dem Status von Anekdoten oder individuellem Leid herauszuholen und das Systematische daran zu zeigen.
Als zweiten Punkt aus der Kriterienliste möchte ich die Thematisierung und Verschiebung von Machtverhältnissen hervorheben, denn eine Politik Reproduktiver Gerechtigkeit gründet sich auf die Erfahrung Reproduktiver Unterdrückung, aber auch auf Selbstermächtigung und die Erkenntnis der eigenen Handlungsmacht auch aus einer marginalisierten Position heraus: „Nahezu jeder Bereich menschlichen Handelns beeinflusst reproduktive Politiken und wird von ihnen beeinflusst, denn Imperien brauchen Körper“. (Ross) Gerade die Position als Ziel bevölkerungspolitischer Praktiken kann somit Menschen aus marginalisierten Communities besonderes Wissen und Bewusstsein verleihen, aus dem politische Handlungsmacht erwachsen kann: „Da wir unseren theoriepolitischen Rahmen aus einer Position der Marginalität heraus verfassten, wurde unsere soziale Verortung zu einer Quelle der Macht.“ (Ross)
Keine individuelle Entscheidungsfreiheit ohne Schutz vor kollektiver Unterdrückung
Verständlich arbeitet Ross auch heraus, weshalb für Reproduktive Gerechtigkeit individuelle und kollektive Rechte zusammengedacht werden müssen: „Die Rechte einer Gruppe müssen geschützt werden, damit Individuen ihre Rechte ausüben können.“ Diese Verbindung ist für mich der rote Faden durch das Buch und erklärt auch den Titel „Mehr als Selbstbestimmung!“ Am Beispiel von juristischen und politischen Entwicklungen in den USA erläutert Ross, wie ein zunehmendes – wenn auch bekanntermaßen von rechten und religiösen Gruppen stets angegriffenes – Verständnis von Schwangerschaftsabbruch als „Privatsache“ und als freie Entscheidung dazu führt, dass dieser einerseits nicht mehr verboten, andererseits aber aufgrund von Kosten und Diskriminierung im Gesundheitssystem auch nicht für alle zugänglich ist und zudem die gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen Menschen eine Entscheidung für oder gegen die Fortführung einer Schwangerschaft treffen, ausgeblendet werden. Diese Feststellung trifft sicher – trotz anderer rechtlicher und sozialstaatlicher Bedingungen – in großen Teilen auch für den gesellschaftlichen Diskurs um Abtreibung in Deutschland zu.
Wenn Selbstbestimmung als bereits gegeben vorausgesetzt wird, können subtile oder strukturelle Einschränkungen der Selbstbestimmung nur noch schwer thematisiert werden, so mein Eindruck aus einem Großteil der deutschen pro choice-Bewegung (Bewegung für Wahlfreiheit bzw. für das Recht auf Abtreibung). Dies kann sich in der Praxis zum Beispiel darin zeigen, dass in politischen Zusammenhängen oder auch in Beratungen wenn überhaupt dann nur noch mit großer Vorsicht darüber gesprochen wird, dass Menschen auch einen Schwangerschaftsabbruch in Erwägung ziehen können weil sie glauben sich finanziell zu überlasten oder dem Kind aus Geldmangel oder Wohnungsnot kein gutes Leben bieten zu können. Und dies, obwohl die meisten Menschen solche Gedankengänge aus ihrem persönlichen Leben und Freundeskreis kennen dürften. Wenn danach nicht gefragt wird, können hier aber auch nur schwer praktische Unterstützung angeboten oder politische Forderungen formuliert werden.
Ziele und Bündnispraxis Reproduktiver Gerechtigkeit
Die drei miteinander verbundenen Ziele von Reproduktiver Gerechtigkeit werden nun auch in Deutschland von immer mehr Aktivist*innen benannt, auch wenn die Nennung des dritten Ziels meistens keine nennenswerten Folgen hat:
- „(1) das Recht, ein Kind unter selbstgewählten Bedingungen zu bekommen;
- (2) das Recht, kein Kind zu bekommen mit Hilfe von Empfängnisverhütung, Abtreibung oder sexueller Abstinenz; und
- (3) das Recht, Kinder in einer sicheren und gesunden Umgebung frei von individueller oder staatlicher Gewalt großzuziehen“ (Ross).
Diese Ziele sind für niemanden komplett verwirklicht. Manchen Gruppen werden sie aber schon lange systematisch verweigert, darunter Schwarzen Menschen, Indigenen Menschen und People of Color, Migrant*innen, Geflüchteten Menschen, Menschen mit Behinderungen, letzteren beiden umso mehr sofern sie in Heimen/Unterkünften/Lagern leben, Menschen, die in Institutionen der Einsperrung leben (den Begriff habe ich von den Herausgeber*innen übernommen), LGBTIQA+ Menschen und Menschen die von Armut und/oder Klassismus betroffen sind.
In Deutschland müssen hier auch besonders die Gruppen erwähnt werden, die von Zwangssterilisationen und anderen Formen von reproduktiver Unterdrückung, Genozid und Reprozid (so nennt Loretta Ross in dem Band einen Genozid der durch die Kontrolle der Reproduktion begangen wird) im Nationalsozialismus betroffen waren, also Jüd*innen, Schwarze Deutsche, Rom*nija und Sinti*zze, Menschen mit Behinderungen und arme Menschen bzw. Menschen deren Lebenswandel den Behörden nicht gefiel und die deshalb als „Asoziale“ abgestempelt wurden. Dies betont Anthea Kyere in ihrem Beitrag zur Übertragung von Reproduktiver Gerechtigkeit auf den deutschen Kontext. Auch heute noch kommen Zwangssterilisationen mindestens in einzelnen Fällen vor, z.B. in Internierungslagern für Migrant*innen in USA und an Rom*nija in Europa.
Doch der Band thematisiert vielfältige heutige Formen der politischen Beeinflussung von reproduktivem Handeln, nicht nur durch Zwang sondern auch mit (neo)liberalen Mitteln. Dazu gehören staatliche Leistungen wie das Elterngeld, das Migrant*innen mit bestimmten Aufenthaltsstati und ALG II-Empfänger*innen nicht bekommen und das als Einkommensersatzleistung vor allem Besserverdienenden nützt (Beiträge von Anthea Kyere und Susanne Schultz). Dazu gehören aber auch Migrationskontrolle und Verweigerung von Familienzusammenführung, Umweltrassismus, rassistischer Terror und vorsichtig formuliert der mangelnde staatliche Schutz davor sowie rassistische Polizeigewalt (Ross). Zur Erklärung: Wenn ich mein Kind in einem Stadtviertel mit gesundheitsschädlich schlechter Luft und in ständiger Angst vor Gewalt großziehen muss, beeinflusst das auch meine Entscheidung für oder gegen das Kinderkriegen.
Aber auch durch „endlos recycelbare Mythen der unwürdigen Mutter, die einer fahrlässigen Reproduktion beschuldigt wird“ (Ross) werden Entscheidungen beeinflusst, die dann hinterher vielleicht wie selbstbestimmte aussehen, es aber nicht sind. Und diese Mythen werden nicht nur von Medien und anderen Eltern auf dem Spielplatz, sondern auch in staatlichen Institutionen reproduziert. So gratulieren JobCenter-Mitarbeiter*innen ihren Kund*innen nicht immer besonders überschwänglich zur Geburt (es gibt Ausnahmen!), Menschen mit Behinderungen werden von Sozialarbeiter*innen und Behördenmitarbeiter*innen eher selten ermutigt ihren Kinderwünschen nachzugehen (auch Zwangssterilisation auf Wunsch der Betreuer*innen ist nach § 1905 BGB im engen Rahmen immer noch legal) und BIPoC und Migrant*innen bekommen oft nicht die medizinische Versorgung die sie bräuchten, weil manche Ärzt*innen ihre Wünsche und Gefühlsausdrücke nicht ernst nehmen oder vielleicht denken sie seien Schmerzen gewohnt. Solche Zusammenhänge werden deutlich in den Interviews des Berliner Netzwerks Reproduktive Gerechtigkeit mit Kiamsha Braithwaite-Hall von Casa Kuà, Ulrike Haase vom Netzwerk Behinderter Frauen, Jane Wangari von Women in Exile und eine*r Vertreter*in der Frauen*-AG in der Erwerbsloseninitiative BASTA! (Ein paar der Interviews sind außer den im Buch abgedruckten Auszügen hier im Volltext zu lesen.)
Hier werden ansonsten künstlich getrennt gehaltene Erfahrungen im durch Loretta Ross genannten Storytelling verbunden und es scheinen neue Erkenntnis- und Bündnismöglichkeiten auf. In diesen Beiträgen wird auch deutlich, wo Selbstbestimmung dann doch wieder eine starke Forderung wäre, z.B. für Eltern mit Behinderung die selbstbestimmte Inanspruchnahme von Angeboten wie Elternassistenz oder begleitete Elternschaft ohne Bevormundung und parallele Drohung mit Wegnahme des Kindes durch das Jugendamt, oder für Schwarze und migrantische Eltern eine Geburt im selbstgewählten Setting und nach gewünschter Methode.
Wie gegen Ungerechtigkeiten alltäglich erkämpfte selbstbestimmte, in Communities eingebundene und diese zugleich bildende Elter(n)schaft zum Beispiel aussehen kann, dokumentiert der Beitrag von Jin Haritaworn, der auf einem Gespräch mit „Erklär mir mal“ basiert. Hier werden nebenbei auch von mir lang ersehnte Bezeichnungen jenseits von Zweigeschlechtlichkeit und Zweielternschaft wie Elter und Pama sowie weitere Bezeichnungen für (Wahl)Verwandschaftsverhältnisse eingeführt.
Zwei sehr unterschiedliche Begriffe von Selbstbestimmung: Zusammenhänge zwischen nationaler und globaler Bevölkerungspolitik
Anthea Kyere und Susanne Schultz weisen in ihren Beiträgen besonders auf Verbindungen zwischen lokalen, nationalen und globalen Praxen hin: Während westdeutschen gutverdienenden heterosexuellen Akademikerinnen die selbstbestimmte Erfüllung ihrer Kinderwünsche durch das Elterngeld erleichtert werden soll, indem vorübergehende Einkommensverluste abgefedert werden, gelten Frauen im globalen Süden (also den ehemals überwiegend kolonisierten Ländern in Afrika, Asien, Pazifik und Lateinamerika) den Bevölkerungspolitiker*innen überhaupt erst als selbstbestimmt oder empowered, wenn sie weniger Kinder haben als um sie herum bisher üblich (Schultz). Seltsamerweise verteilen deutsche Konzerne und Entwicklungsagenturen dort bevorzugt Langzeitverhütungsmittel, die eben nicht selbstbestimmt eingesetzt und abgesetzt werden können. Beide bevölkerungspolitischen Ziele – hier mehr, dort weniger Geburten – werden aber mit erbaulichen Erzählungen über die Rechte und Wünsche von Frauen eingerahmt. Diese Praxis und die ihre bevölkerungspolitischen Ziele verschleiernde Begleitrhetorik wird auch in einem internationalen Aufruf feministischer Aktivist*innen und Expert*innen anlässlich einer UN-Konferenz in Nairobi 2019 kritisiert, der ebenfalls in dem Band abgedruckt ist.
Theoretischer, aber auch sehr anschaulich erklärt Susanne Schultz die „malthusianische Matrix“, nach dem englischen Pfarrer und Ökonom Thomas Malthus, der im 19. Jahrhundert grob zusammengefasst vorschlug die Armut durch eine Reduzierung der Armen zu bekämpfen. Diese Matrix funktioniert kurz gesagt so, dass im ersten Satz behauptet wird, zur Lösung eines bestimmten Problems, das praktisch als natur- bzw. gottgegeben dargestellt wird, müssten entweder mehr (z.B. zur Sicherung der Renten) oder weniger (z.B. zur Reduzierung des CO2-Ausstosses) Menschen geboren werden. Danach geht es zweitens ohne weitere argumentative Überleitung aber plötzlich nur noch darum, Geburten bei einer ganz bestimmten Gruppe zu fördern oder zu verhindern, meist unabhängig davon ob oder wie stark diese Gruppe zu dem benannten Problem beiträgt. Der dritte Schritt dieser Matrix ist es Maßnahmen zu entwerfen mit denen das Gebären beeinflusst werden kann. Genau mit dieser „Argumentation“ wurde in Deutschland das Elterngeld 2007 eingeführt, ohne zu thematisieren, dass erwerbslosen Menschen und anderen Menschen mit niedrigen Einkommen im Vergleich zum vorigen Erziehungsgeld auch etwas genommen wurde.
Schultz spricht auch Gefahren des Erhebens von und des Argumentierens mit Daten an, denn es sei ein „grundsätzlicher Effekt statistischen Denkens, dass eben diejenigen, die von einer gesellschaftlichen Krisensituation besonders betroffen sind, auch als diejenigen gelten, die dieses Krisenphänomen (…) repräsentieren“ und somit, so füge ich hinzu, leicht von Betroffenen zu Beschuldigten werden. Dieser Zusammenhang konnte während der laufenden Pandemie, die Schultz ebenfalls ausführlich thematisiert, gut beobachtet werden, denn außer von ein paar rechten Politiker*innen, deren Anliegen genau diese Beschuldigung Betroffener war, waren meinem Eindruck nach in Deutschland kaum öffentliche Äußerungen zu den unterschiedlichen Sterberaten verschiedener sozialer Gruppen zu vernehmen. Dennoch wünsche ich mir persönlich, dass Storytelling bei aller gebotenen Vorsicht bald durch mehr Forschungen und auch quantitative Daten ergänzt wird, die als Argumente im politischen Kampf für Reproduktive Gerechtigkeit sicher noch gebraucht werden.
Dass die Herausgeber*innen des Bandes sogar – bei einem so breiten Konzept unvermeidliche – Lücken in ihrem Buch benannt haben, z.B. die Geschichten von Menschen die durch Migration und Migrationskontrolle, Abschiebung oder Einsperrung von ihren Familien getrennt sind, macht auf jeden Fall neugierig auf mehr. Bleibt zu hoffen, dass sich die Theorieproduktion und Bündnisarbeit die in Deutschland gerade stattfindet diesen Themen widmet und sich bald auch dem dritten Ziel von Reproduktiver Gerechtigkeit annähert.
Conni Schwärzer-Dutta